88

Betreutes Puzzeln

von D.S.
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Das Gegenteil von gut ist gut gemeint – eine Tatsache, die von 88 nur einmal mehr aufs deutlichste bestätigt wird. Die kanadische Independent-Produktion hat zwar keine sonderlich spektakuläre Story zu bieten, erzählt diese aber immerhin auf eine Weise, die prinzipiell für Interesse beim Zuschauer sorgen könnte. Wenn... tja, wenn man es seitens der Produzenten nicht so gut mit diesem gemeint hätte. Man wollte sichergehen, dass er dem Geschehen auch würde folgen können – der etwas unkonventionelleren, non-linearen Erzählweise zum Trotz. Also entschied man sich, ihn an die Hand zu nehmen. Und hat damit alles komplett ruiniert.

Katharine Isabelle spielt Gwen, eine junge Frau, die sich über einen entscheidenden Teil des Handlungsverlaufs hinweg in einer "Dissoziativen Fugue" befindet: Als Aster, die Liebe ihres Lebens, erschossen wird, entfremdet sie sich von einer Sekunde auf die andere aufs Vollkommenste von ihrem bisherigen Leben. Ja, sie vergisst, dass sie es überhaupt gelebt hat: Verwandelt sich in eine ganz andere Person mit ganz anderen Charakterzügen. Aus der sanften, scheuen, schutzbedürftigen Gwen wird die knallharte, unbeherrscht gewalttätige, rücksichts- und regellose "Flamingo". Die durch Hinweise, die sie etwa in ihrem Hotelzimmer findet, realisiert, dass sie ein Ziel zu verfolgen hat, und das dann gnadenlos angeht: Rache für den Mord an ihrem Partner, der offensichtlich auf das Konto der lokalen Unterweltgröße Cyrus (Christopher Lloyd) geht. Schon bald zieht sie eine Spur aus Chaos und Blut hinter sich her – und niemand kann begreifen, was aus der süßen kleinen Gwen geworden ist...

88 erzählt diese Story auf zwei zentralen Zeitebenen: der von Flamingo, also innerhalb der dissoziativen Fugue, und der, nachdem Gwen wieder aus ihr erwacht ist. An genau diesem Punkt beginnt die Handlung, kurz darauf werden wir in Gwens Fugue-Phase versetzt, springen dann wieder zurück nach vorne, und so weiter und so fort. Dazu kommen außerdem noch diverse Flashbacks zu Szenen, die vor Gwens Eintritt in die Fugue spielen: ihre Erinnerungen an das Leben mit Aster; die Momente, die zu seinem Tod geführt haben.

Das ist eine durchaus anspruchsvolle Erzählstruktur, keine Frage. Es wird nicht dadurch einfacher gemacht, dass "Fugue-Gwen" aka Flamingo immer wieder mal an visuellen oder auditiven Halluzinationen leidet und von bestimmten Gegenständen oder Geräuschen kurz mal auf eine rauschhafte Erinnerungsreise geschickt wird. Aber es hätte eben auch verdammt viel Potential gehabt, einen wirklich beeindruckenden, ungewöhnlich fesselnden Film zu schaffen – bei dem der Zuschauer erst mal so ratlos wie die Hauptfigur dasteht und sich aus einer ungeordneten Fülle an Informationen, die in teils atemberaubender Geschwindigkeit auf ihn einprasseln, die Zusammenhänge und den "echten" Ablauf der Story entwirren und erpuzzeln muss. Ein bisschen wie bei MEMENTO, vielleicht, wenn auch mit mehr Fokus auf Style als auf Intellekt.

Das hatte Regisseurin April Mullen wohl auch so vor, wie sie im ausführlichen Making-of der Blu-ray erläutert. Aber die Menschen mit dem Geld trafen eine andere Entscheidung. Die, auf Nummer sicher zu gehen. Und so wird nun JEDE Szene mit einer kurzen Zusammenfassung vom Geschehen der letzten vorherigen Szene im aktuellen Zeitstrang eingeleitet. Die Szenen sind, vor allem in der ersten Hälfte des Films, sehr kurz – und das heißt, dass wir alle drei Minuten ein "Was bisher geschah" präsentiert bekommen. Super Idee. Not.

Denn diese Vorgehensweise unterbricht natürlich kontinuierlich den Fluss der Handlung und nimmt das Tempo raus, bevor es überhaupt so richtig abheben kann. Sie ist geradezu beleidigend für den Zuschauer, dem man offensichtlich weniger Erinnerungs- und Denkvermögen zutraut als Flamingo. Und sie sorgt nach kürzester Zeit für schreckliche Langeweile, weil man vieles einfach viel zu oft gezeigt bekommt – manche Einstellungen dank der zusätzlichen Flashbacks bestimmt an die zehn Mal.

Die sonstigen Schwächen des Films (eine ganze Reihe meist flacher oder aber furchtbar überzeichneter Figuren, wie etwa die von Christopher Lloyd; ein paar Nebendarsteller mit nur begrenztem Talent; einige kleinere Unstimmigkeiten/Unglaubwürdigkeiten im Handlungsverlauf; und natürlich das nur begrenzte Gewicht der klischeebeladenen Haupthandlung selbst) spielen da kaum noch eine Rolle: die "Bevormundung" des Zuschauers durch das Erzählhilfsmittel sowie die Sprödheit, Un-Filmhaftigkeit, die von ihm ausgeht, machen 88 aufs Ganze betrachtet zu einem äußerst ärgerlichen Erlebnis.

Schade, da wäre viel mehr drin gewesen. Zumal Frau Isabelle ihre beiden Personen recht überzeugend spielt und der Film über weite Strecken aus ästhetischer Sicht durchaus punkten kann, es ist klares Talent in Bildgestaltung, Kameraführung und Montage erkennbar. Auch der Soundtrack (in dem u.a. die deutschen Depri-Theatraliker von GET WELL SOON vertreten sind) geht in Ordnung.

Letztendlich haben April Mullen und ihr Drehbuchpartner Tim Doiron – denen wir zuletzt die mäßig unterhaltsame Zombie-Dämonen-Komödie DEAD BEFORE DAWN zu verdanken hatten und die hier in unterschiedlich relevanten Rollen auch vor der Kamera auftreten, was vielleicht nicht die beste Idee war... – jedoch einen Film abgeliefert, auf den sie definitiv nicht stolz sein können. Allen guten Ursprungsideen, realisierten Ansätzen und dem sympathischen Habitus sämtlicher Beteiligter zum Trotz.

5 Punkte gibt’s von mir. Aber es ist wirklich eine Schande, wenn man sich überlegt, was hieraus auch hätte werden können. Wenn man sich nur getraut hätte.
D.S.

17.07.2015, 01:13


Das Trauma der verschütteten Milch.

von Alexander
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Sensationell spannender, und intelligent gemachter, kleiner Mystery-Thriller mit einer herausragenden Hauptdarstellerin und tollem Soundtrack.

Die an einer, durch ein schweres Trauma ausgelösten, Persönlichkeitsstörung leidende „Gwen“ (bzw. ihr Alter Ego „Flamingo“) taumelt durch diesen abgefahrenen Mystery-Thriller wie eine vollgetankte Killermaschine auf 2 sexy Beinen.

Was Katherine Isabelle hier an Performance abliefert war für mich die beste schauspielerische Leistung auf dem diesjährigen Filmfest. Es ist wirklich eine wahre Lust ihr dabei zuzusehen wie sie ordinär riesige Haufen Pancakes in sich reinstopft, bei jeder Gelegenheit lasziv ihre Milch verschüttet oder in die Gänge von Supermärkten uriniert.

Dieser feine Thriller scheint wie der kleine Bruder von „Memento“ zu verlaufen, entscheidet sich dann aber sehr bald doch für eine etwas andere Erzählstruktur. Der Film springt dabei permanent zwischen den beiden Alter Ego „Flamingo“ und „Gwen“ hin- und her, kreuzt parallel dazu aber auch unterschiedliche Handlungsstränge in Vergangenheit und Gegenwart.

„88“ ist ein kniffliger, dabei immer hochspannender Thriller, mit einem wirklich sensationellen, treibenden Soundtrack, der die intensiven Bilder zu jeder Zeit passend unterlegt und ihre Wirkung noch zu verstärken weiß. Bis zum letzten Moment kann man als Zuschauer dabei herumknobeln, was es mit der Zahl „88“ oder auch den an allen Ecken und Enden zerdepperten Milchflaschen- und Gläsern denn nun auf sich hat. Das ist ein bisschen David Lynch in der „light“ Ausgabe, macht aber ungeheuren Spaß.

Trotz der für mich nicht nachvollziehbaren negativen Stimmen im Vorfeld, bei denen ich mich wirklich fragen muss, ob jene Kritiker eine andere Version von „88“ sahen, als die auf dem FFF gezeigte, eines meiner aboluten Highlights in diesem Jahr.
Alexander
sah diesen Film im Cinestar, Frankfurt

22.08.2015, 22:52


All hail Katharine Isabelle!

von ArthurA
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Bei der achronologischen Erzählweise und der Suche nach der Wahrheit, die durch Gedächtnisverlust verhindert wird, stand hier offensichtlich Memento Pate. Für die exzentrischen Charaktere und den Gewaltfaktor mussten Tarantinos Filme herhalten. Originell ist hier nicht viel und die Filmemacher trauen dem Publikum offenbar auch nicht zu, selbst ein wenig zu rätseln. Stattdessen wird sichergestellt, dass trotz der teils verworrenen Erzählung beim Zuschauer alles ankommt, bis zu dem Punkt, dass die meisten Twists von den Charakteren im Klartext ausgesprochen werden, damit auch der unaufmerksamste Zuschauer weiß, was Sache ist. Dadurch geht natürlich das Potenzial eines Knobelfilms verloren. Es ist einzig und alleine Katharine Isabelles vielseitiger Performance zu verdanken, dass das Interesse an ihrer Wahrheitssuche nie ganz schwindet. Ob als verschreckte, ängstliche Gwen, die versucht, die Puzzleteile zusammenzusetzen oder als obercoole Flamingo, die ungeniert mit einer Don’t-give-a-fuck-Attitüde in einem Supermarkt auf den Boden uriniert – Isabelle zeigt hier alle Facetten ihres Könnens. Nett ist auch wieder einmal, Christopher „Doc Brown“ Lloyd in einer herrlich überdrehten Rolle zu sehen. Die beiden Darsteller hätte man sich bloß in einem besseren Film gewünscht.
ArthurA
sah diesen Film im Residenz, Köln - Original-Review

03.09.2015, 15:33


Egal ist 88

von Herr_Kees
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Ui, da hat sich im Schneideraum aber jemand selbst verwirklicht: 88 ist mindestens so durcheinander wie seine an Amnesie leidende Hauptfigur, was einem beim Miträtseln in diesem Puzzlethriller ziemlich den Spaß verdirbt. Überhaupt ist der Film an sich bisweilen so dämlich und unlogisch, dass das redundante Schnittgewitter wohl vor allem die vielen Schwachstellen überdecken soll.

Auch hat man mit Flamingo/Gwen – trotz der immer sehenswerten, hier allerdings etwas overactenden Katherine Isabelle – kaum Mitgefühl, weil sie sich schon in frühen Flashbacks/-forwards/-sideways wie ein Arschloch benimmt. In MEMENTO konnte man zumindest bis zuletzt mit Guy Pearce mitfiebern, aber da war ja auch das Ende noch einfallsreich, hier wird es schlichtweg kopiert.
Herr_Kees

05.09.2015, 00:20


Milch macht müde Filme munter

von Leimbacher-Mario
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Christopher Nolans "Memento" ist einer meiner Lieblingsfilme & eigentlich ein Meilenstein, bei dem ich mir direkt sicher war: der wird viele Filme beeinflussen, es werden dutzende Kopien folgen. Ich war sehr erstaunt, dass es in den Folgejahren dann doch keine Flut an Memento-Klonen gab & der Respekt vor dem verschachtelten, extrem stylischen Krimi groß war. Selten aber hat ein Film so offensichtlich Inspiration genommen wie der neue, kanadische "88".

Wir folgen der psychisch zwiegespaltenen Flamingo/Gwen durch eine verschaltete Rachegeschichte. Mal als Gwen, lieb & schockiert über das gewalttätig-verrückte Geschehen um sie herum, mal als Flamingo, aggressiv, extrovertiert & der Auslöser dieser Gewaltspirale. Zwei Zeitebenen, die an einem gewissen Punkt zusammenlaufen, eine Story, die sich nach & nach oft möchtegern-überraschend aufklappt...

Es gibt zwei große Punkte, die den Film auf Kurs halten: die grandiose wie sexy Hauptdarstellerin Katharine Isabelle, die hier alle Facetten ihres Filmcharakters exzessiv darstellen kann. Tolle Frau, fesselnde Leistung. Und der wunderbare Style - immer schick, oft bildhübsch, mit sich wiederholenden Mustern wie zerdeppernder Milch oder der Zahl 88. Und auch mit sehr stilsicherer & cooler Musik unterlegt. Das reicht, um den Film vom Gurkenstatus fern zu halten.

Allerdings gibt es dann doch genug Ärgernisse, um hier eher den Daumen runter zu drehen. Dauernde Wiederholungen & Erläuterungen, durch die angezeigt wird, bei welcher Persönlichkeit wir gerade sind, schätzen den Zuschauer gering, machen gefühlt ein Viertel des Films aus & lassen den Film noch dümmer, als die eigentliche Geschichte eh ist, erscheinen. Dazu ein paar Schein-Wendungen gegen Ende, bei denen man auch eher die Augen rollt. Kein Flop wie z.B. "Revenge for Jolly", aber irgendwie wird man das Gefühl von verschenktem Potenzial nicht los.

Fazit: Mementos kleine, etwas zurückgebliebene Cousine... Keine 88 Minuten vertane Lebenszeit, aber auch nicht halb so cool, wie er meint zu sein!
Leimbacher-Mario
sah diesen Film im Residenz, Köln

14.04.2016, 11:11




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