Historisches Gewaltdramavon Alexander | Permalink |
Das puritanische Leben einer Farmersfamilie im 16. Jahrhundert und die von einem dominanten Patriarchen unterdrückte Ehefrau „Fanny“ stehen im Mittelpunkt des ansprechend in Szene gesetzten Films. Das kleinste Aufbegehren der Ehefrau wird im Keim erstickt, sie hat sich in die ihr zugedachte Rolle zu fügen und scheint ihr Schicksal mit traumwandlerischer Sicherheit zu akzeptieren und zu meistern. Doch das strenge Regiment des Vaters wird bald von einem freizügigen Pärchen gestört, das so unerwartet über die isolierte kleine Welt kommt wie ein kurzer, heißer Sommerregen, und das geordnete Patriarchat ziemlich durcheinander bringen soll. Der Film nimmt sich sehr viel Zeit, dem Zuschauer das harte Leben der gottesfürchtigen Familie in vielen, schön ausgearbeiteten Szenen darzustellen. Trotz den zumeist sehr ruhigen Bildern und idyllischen, Nebel-verhangenen Szenerien spürt man aber die ganze Zeit, dass auf irgendeine unangenehme Art und Weise früher oder später das Böse in diese Ruhe einbrechen wird. Die Anspielung auf „Wer Gewalt sät“ als Referenz kommt nicht von ungefähr, das Unheil bahnt sich erbarmungslos seinen Weg zum Ziel, doch bleibt lange Zeit unklar, aus welcher Richtung der Schmerz kommen wird. Und von einem „feministischen“ Film zu sprechen, ist im weitesten Sinne auch nicht verkehrt. Das einzige echte Problem, das ich dann mit „Fanny Lye“ hatte, war der gesprochene Akzent. Ich glaube sogar, dass ich mindestens 20% nicht wirklich verstanden habe, was bei einem weniger action-, aber umso mehr dialoglastigen Film doch etwas störend sein kann. Die Frage, die zu guter Letzt dann noch, trotz aller gut gemeinten Kritik, zu stellen erlaubt sein muss, bleibt für mich halt trotzdem, warum Thomas Clay volle 10 Jahre gebraucht hat, um diesen sicherlich überdurchschnittlichen, auf der anderen Seite dann aber doch nicht dermaßen spektakulären Film zu machen? | |
Alexander | 10.09.2020, 13:25 |
An die Freudevon D.S. | Permalink |
Winter of Love, 1657: FANNY LYE kreuzt großartig gefilmtes Period Piece aus der dunkelsten Periode von Cromwells England mit einem Ausbruch von in diesem Kontext teils fast surreal überzeichnet, zumindest aber aus der Zeit gefallen wirkender Libertinismus-Strömungen. Diese werden durch ein äußerst Hippie-ähnlich gezeichnetes Pärchen personifiziert, das in die autoritäre Familienidylle eines Puritanier-Patriarchen (Charles Dance, GAME OF THRONES) einbricht und dabei insbesondere die Welt seiner Frau, der titelgebenden Fanny Lye (Maxine Peake, SHAMELESS) auf den Kopf stellt. Kurz gesagt, ein Film über die Emanzipation von Dogmen, über sexuelle Befreiung, über ein Sich-zur-Wehr-Setzen gegen überkommene, machtbasierte Regeln – aber auch über falsche Versprechungen, blinde Unterwerfung unter emotionale Bedürfnisse und vor allem über die Notwendigkeit, in erster Linie immer an sich selbst zu glauben. Hervorragende Darstellerleistungen, ein wunderbarer Score und insbesondere die grandiose Kameraarbeit machen FANNY LYE unbedingt sehenswert. Zu einem echten FFF-Film wiederum machen ihn seine grimmige Stimmung und die Kompromisslosigkeit des gezeigten Geschehens, vor allem aber seine grenzensprengende inhaltliche Fluidität, die ihn im Verlauf der Inszenierung an so unterschiedliche Werke wie WITCHFINDER GENERAL, THE DREAMERS und sogar FUNNY GAMES erinnern lässt. Von mir dennoch „nur“ 6,5 von 10 Punkten, da ich mich mit derart historischen Settings persönlich etwas schwer tue. Trotzdem eine klare Empfehlung. | |
D.S. sah diesen Film im Harmonie, Frankfurt | 12.09.2020, 01:29 |
A Farm in Englandvon Herr_Kees | Permalink |
Home Invasion mal anders: Hier sind es die libertären Gedanken eines jungen Paares, die in eine eigentlich hermetisch abgeschlossene, streng religiöse Gedankenwelt eindringen und die Protagonistin gefangen nehmen – jedoch mit der Absicht, sie zu befreien. In Gestalt eines historischen Thrillerdramas kommt hier ein Film, der hervorragend passt in unsere Zeit, in der tausende Menschen auf die Straße (oder ins Internet) gehen, um anderen die Augen für ihre eigene Weltsicht zu öffnen, die natürlich die richtige ist. Es entbrennt ein Krieg der Standpunkte und wie in jedem Krieg gibt es auch hier keine Gewinner. Der Film, übrigens eine ZDF/arte-Koproduktion, ist als intensives Kammerspiel angelegt, ein starker, morriconehafter Soundtrack (komponiert von Regisseur Thomas Clay selbst) und eine wunderbare Kamera sorgen dafür, dass das Ganze trotz Dialoglast nicht zu theatralisch wird. Als sei der Film sich selbst nicht genug, muss seltsamerweise auch noch ein sadistischer Sheriff nebst Deputy herbei, die sich jedoch aufführen wie in ihrem eigenen Film, bzw. als seien sie geradewegs aus Ben Wheatleys absurdem A FIELD IN ENGLAND gepurzelt. Die unpassende humoristische Note und bisweilen auch die arge Geschwätzigkeit nehmen dem Film leider etwas von seinem Fokus und von seiner Wirkung, aber so ist das, wenn man eine Botschaft zu verkünden hat, dann ist das Missionieren manchmal wichtiger als alles andere. | |
Herr_Kees sah diesen Film im Metropol, Stuttgart | 26.09.2020, 01:16 |
Die blauen Augen des Charles Dancevon splattercheffe | Permalink |
Manchmal spürt man den Spalter schon an der Beschreibung im FFF-Programmheft. Mittelalter, Puritanismus, auf 35mm gedreht, 10 Jahre Produktionszeit, zukünftiger Kultfilm waren da so die Appetizer... Was man dann allerdings bekommt, hat meine Erwartungen über die Maßen übertroffen - wobei ich verstehen kann, dass manche glauben, einen völlig anderen Film gesehen zu haben. Für mich entfaltet sich hier ein Drama von (sorry für die Phrase) geradezu alttestamentarischer Wucht, das weit über Home-Invasion-Thriller oder ähnliches hinausgeht. Das klaustrophobische Setting - tatsächlich spielt sich fast die gesamte Handlung in Haus und Hof des puritanischen Patriarchen und seiner Ehefrau ab - wird dabei durch das Eindringen des jugendlichen Paares und die folgenden Auseinandersetzungen zuerst verbaler, dann zunehmend physischer Art konterkariert, hin zu einer Öffnung des Geistes, der Begierden, des kompletten Status Quo. Dass man das dialoglastige Geschehen gebannt verfolgt, liegt an dem durchweg herausragenden Spiel der vier Protagonisten, auch wenn ich den Blick von Charles Dance nochmal hervorheben würde, der Akkuratesse und Genauigkeit, mit der das Jahr 1657 zum Leben erweckt wird, dem, ja, Morricone-artigen Score, und den zumindest für dafür Interessierte spannenden psychologisch-philosophisch-religiösen Fragen, die verhandelt werden. Und doch, so könnte man sagen, deutet sich das Hauptthema bereits früh an, denn die Voice-Over-Stimme kommt nicht von einem der Männer, sondern von einer der Frauen. Und obwohl die beiden Männer die Handlung voranzutreiben scheinen, wirken die beiden Frauen von Anfang an stärker, mächtiger... Hier von einem feministischen Spin zu sprechen, ist in meinen Augen leicht, nein, stark untertrieben. Um einen starken Dialog der beiden Ladies zu paraphrasieren: KEIN Mann wird jemals diese Macht haben, egal wie sehr er das Wort führt, die Reden schwingt, die Befehle gibt, ob er misshandelt oder das Gegenteil - wenn sich die Frau zur Freiheit entschließt. Pathos? Schon klar. Aber bitte, ein Kultfilm in spe? Für mich ist FANNY LYE DELIVER'D jetzt schon ein Klassiker. | |
splattercheffe sah diesen Film im Cinema, München | 29.09.2020, 11:21 |
Gottverdammter Glaubenskriegvon Leimbacher-Mario | Permalink |
„Fanny Lye Deliver'd“ ist ein gewalttätiger Neo-Western, puritanischer, psychologischer und religiöser Horror voller Anfeindung, Verblendung und Aggressionen, Missverständnis, fehlender Kommunikation und Unmenschlichkeit, biestiger „Überzeugungsarbeit“, sturen Predigten und perversen Praktiken. Erzählt wird von einer puritanischen Farm im England des 17. Jahrhundert, wo eine dreiköpfige, sehr streng gläubige Familie durch ein junges, sehr modern (aber nicht minder stur!) denkendes Paar auf eine harte Probe gestellt wird... Genauso sehr Rachefantasie und Feminismusfaust wie eine starke, ambivalente Abhandlung zweier christlicher Seiten von ein und derselben Medaille – „Fanny Lye Deliver'd“ ist ein kostbares, unbestreitbar kraftvolles Kleinod. Von den famosen Darstellern über seinen Gänsehaut-Score mit massiven Spaghettiwestern-Vibes bis hin zu eruptiven Gewalt- und Erotik-Fontänen, dynamischen Kameraschwenks oder allgemein einem 16mm-Bildformat und Bildkompositionen, die zeitlos genial sind und ihresgleichen suchen müssen. Jederzeit ist sichtbar, wie viele Jahre harte, akribische Arbeit in das Projekt geflossen sind. Richtig „klick“ und Sinn gemacht bzw. zugepackt hat das widerspenstige, sehr behäbige, fast etwas schläfrige und mäandernde Fast-Kammerspiel bei mir zwar erst in der zweiten Hälfte, bis dahin war es phasenweise etwas anstrengend bis qualvoll. Doch das Warten und Reinknien lohnt sich hier ausnahmslos. Ohne Frage eine der Gourmet-Entdeckungen des diesjährigen Fantasy Filmfests. Fazit: Audiovisuell atemberaubend, thematisch schwer, viel Subtext, Atmosphäre und Detailliebe. Zudem brachial aufopferungsvolle Darsteller und einige schockierende Härten. Ein fühlbarer Neo-Western und ein fieser Twist in Sachen Home Invasion. Dennoch: durch sein Schneckentempo, seine spezielle, fast schon „Special Interest“-Art und ein paar unnötige, unpassende Gags nicht perfekt. Aber der muss eh noch durchziehen... | |
Leimbacher-Mario sah diesen Film im Residenz, Köln | 30.09.2020, 00:45 |
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