Maldoror

Im Keller

von Herr_Kees
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Der Fall des Kinderschänders Marc Dutroux erschütterte in den 90ern Belgien und den Rest der Welt. Fabrice du Welz orientiert sich an den Fakten des Kriminalfalls, erzählt sie aber aus der Perspektive des (fiktiven) jungen Gendarms Paul. Das hat Vor- und Nachteile.

Einerseits werden wir durch das persönliche Erleben des sehr engagierten Polizisten höchst immersiv ins Geschehen gezogen. Ob wir sein Privatleben inklusive ausgedehnter Hochzeitsfeierlichkeiten in dieser Ausführlichkeit miterleben müssen, sei dahingestellt. Die zweieinhalb Stunden des Films sind nichtsdestotrotz höchst spannend und kurzweilig.

Die hinzugedichtete Räuberpistole nebst Verschwörungstheorie, die du Welz uns nach der Verhaftung des Täters noch präsentiert, schmälert jedoch leider die schrecklichen Taten des Pädophilenrings etwas zu Gunsten der persönlichen Obsession von Paul. Dass die Festnahme und die problematische Geburt von Pauls Kind zeitgleich stattfinden, hat schon eine stark übertriebene Hollywooddramatik. Schade, denn als Ermittlungsthriller ist MALDOROR (so der Name der verdeckten Überwachungsaktion) extrem fesselnd.
Herr_Kees
sah diesen Film im EM, Stuttgart

14.09.2024, 01:25


Die Beiläufigkeit des Bösen

von Leimbacher-Mario
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„Maldoror“ beruht auf wahren Vermissten- und Mordfällen an kleinen Mädchen, die Mitte der 90er ganz Europa auf Trab gehalten, Belgien bis heute einen Stempel aufgedrückt haben und noch immer unter die Haut gehen. Regisseur Fabrice Du Welz reichert diesen grausamen Kern aber mit einer epischen, halb Europa umspannenden, aber irgendwie auch sehr familiären Geschichte eines Polizisten an, der in dem verstörenden Fall (mehr oder weniger geheim) ermittelt, in etliche zwischen behördliche Querelen und Konkurrenzkämpfe gerät, bis alles zur düsteren Obsession wird, die auch vor seinem Privatleben nicht haltmacht…

Die Fesseln der Furcht

Pasta und Citreons, markante Holzmöbel und sizilianische Sitten, die 90er und behördliche Unsitten, Hochzeitsfeiern und Beatrice „Inside“ Dalle. Ich kann mich zwar selbst nicht mehr wirklich an den Fall Dutroux erinnern, war ich als '88er doch noch deutlich zu jung für einen solchen ganz realen Horror - aber „Maldoror“ könnte dennoch kaum passender und persönlicher für mich sein. Du Welz hat einen instinktiven und dreckigen, dennoch sehr stylischen Regiereigen, der (fiktives) Privatleben und echten Kriminalfall erstaunlich gut kombiniert und zerfließen lässt. Großes europäisches Kino, keine Frage. Kantig, eklig, bitterböse. Unangenehm. Wie könnte es auch anders sein, bei diesem eiskalten Vorbild. Seine Darsteller sind durch die Bank klasse, die Gesichter wirken frisch und ihre Art bleibt immer natürlich. Der Score kann echt Gänsehaut in den Nacken treiben, mal aggressiv, insgesamt eher sporadisch eingesetzt. Kindesmissbrauch ist immer ein wütendes und fieses Thema, doch Du Welz macht daraus keine Horrorshow oder wird exploitativ. Die vielen italienischen (oder gar sizilianischen Details) sprechen mich persönlich an, haben mich in dem Zusammenhang, der Dichte und Ausführlichkeit überrascht und helfen über manch eine inhaltliche Schwäche hinweg. Weit über zweieinhalb Stunden ist vielleicht etwas sehr ambitioniert. Die Hochzeitsszene könnte gar Coppola gefallen, dermaßen ausladend und detailverliebt ist alles. Doch gerade diese familiären Exkurse verwandeln „Maldoror“ in einen beeindruckend dicht verwebten Teppich aus den Ängsten, Spleens, (auch behördlichen und staatlichen!) Problemen und Wunden seiner Epoche, seines Europas. Und von den angedeuteten viel größeren Kreisen solcher pädophilen Ringe will man am besten gar nicht erst anfangen zu sprechen…

Die Ahnungen der Angst

Fazit: Fast schon epischer Thriller über einen der verstörenderen Kriminalfälle Belgiens, ja Europas. Das 90er-Zeitkolorit ist besonders grandios - und das nahezu ohne populäre Songs dieses Jahrzehnts. Meine persönlichen Details und Verbindungen zu der Familie des Protagonisten sind verblüffend, aber vor allem der eigentliche Fall ist packend und verstörend genug, um über manch eine filmische Länge hinwegzutragen… Insgesamt teils höllisch intensiv und seelisch angeknackst. Aber auch etwas sperrig.
Leimbacher-Mario
sah diesen Film im Residenz, Köln

24.09.2024, 02:30


Ein Blick in die Hölle – aus der Hölle

von D.S.
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Fabrice du Welz bleibt dem Thrillergenre treu, nach der fiktiven Fabel INEXORABLE beschreitet er mit MALDOROR nun jedoch wesentlich realistischere Pfade. Leider realistischere, möchte man sagen – denn die Handlung seines Films ist mehr als nur angelehnt an die wahre, finstere Geschichte der Taten des belgischen Kinderschänders, Entführers und Mörders Marc Dutroux, die Mitte der 1990er ganz Europa erschütterten. Auch, wenn der und alle sonstigen Beteiligten hier andere Namen tragen: Du Welz bleibt den bis heute bekannten Fakten rund um den Fall weitgehend äußerst treu – bis zum Finale, das frei erfunden ist. Dazu später noch etwas mehr.

Was den Film dabei neben seinem makabren Sujet so interessant macht, ist die gewählte Erzählperspektive. Denn einer der wohl schockierendsten Aspekte der Dutroux-Gräuelsaga ist das Versagen der Ermittlungsbehörden, die inmitten von politischen, Verwaltungs- und Kompetenzstreitigkeiten wertvolle Hinweise zu den Taten unter den Tisch fallen ließen, sich gegenseitig in ihrer Arbeit behinderten und Indizien ignorierten, die es ihnen erlaubt hätten, einige Opfer noch lebend zu retten. Und weitere zu vermeiden. MALDOROR macht einen (fiktiven) Polizisten, den jungen Gendarmerie-Angehörigen Paul Chartier (Anthony Bajon, der 2020 die Titelrolle in TEDDY übernahm), zur Hauptfigur, zum Dreh- und Angelpunkt seiner Erzählung. Und gewährt uns dadurch einen Blick ins Innenleben des Chaos‘, welches es dem Morden und Leiden erlaubt hat, so viel länger anzudauern, als nötig gewesen wäre. Was wir dabei geboten bekommen, ist teilweise wirklich schockierend. Selbst dann, wenn man viele Details zum realen Fall bereits vor der Filmsichtung kannte.

Allerdings fügt du Walz der Handlung durch die Figur des Paul zudem eine weitere Ebene hinzu, die den Film eindeutig von der Anmutung einer Dokumentation entfernt – und dafür sorgen soll, dass beim Publikum eine stärkere Bindung an das Geschehen auf der Leinwand erfolgt. Dieses dreht sich nämlich nicht nur um die Dutroux-Ermittlungen an sich, sondern auch um Pauls eigene Geschichte und darum, wie sie von jenen beeinflusst wird. Wie er sich immer stärker in den Fall hineinsteigert, bald förmlich besessen von ihm ist. Und schließlich ganz persönliche Konsequenzen zieht.

Um diese Rolle umfassend ausfüllen zu können, benötigt Pauls Figur natürlich Hintergründe, Reibungspunkte und etwas zu verlieren. Zu den wenigen Dingen, die man MALDOROR vorwerfen kann, gehört die Tatsache, dass hier etwas ausufernd wild und vielleicht auch nicht unbedingt realistisch vorgegangen wurde. Was sowohl seine „reißerische“ Vergangenheit als Sohn einer Prostituierten (Béatrice Dalle) betrifft als auch seine episch geschilderten, durch die Hochzeit mit der jungen Gina (Alba Gaïa Bellugi, eine Hauptdarstellerin in INEXORABLE) finalisierten Verbandlungen mit einer sizilianischen Großfamilie. Darüber lässt sich jedoch hinwegsehen; entscheidender ist, dass seine persönliche, irgendwann außerordentlich ungesund werdende Obsession mit dem Fall auch den Zuschauer auf einer weiteren Ebene mitreißt.

Jedem, der sich auch nur entfernt für die Hintergründe und Folgen des Falls Dutroux interessiert, sei MALDOROR deshalb unbedingt empfohlen – wie auch jedem, der einfach nur einen spannenden Krimi mit deutlich geäußerter Kritik an der Arbeit der Behörden sehen möchte. In seinem Finale entfernt sich der Film übrigens recht deutlich vom realen Geschehen, allerdings auf eine Weise – vielleicht die einzig denkbare –, die es ihm ermöglicht, klare Position zu den weitverbreiteten Gerüchten und Verschwörungstheorien zu beziehen, die sich um mögliche Hintermänner Dutroux‘ drehen – um einen weltweiten Pädophilenring und die Verstrickung hochrangiger Politiker und Geschäftsleute in diesen. Das einzige, was der Film (fast) gar nicht thematisiert, ist die Tatsache, dass in der Zeit zwischen Dutroux’ Verhaftung und dem Prozessbeginn 27 Zeugen unter teils sehr mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sind. Was wirklich spooky ist. Wer sich dafür interessiert, dem sei die ZDF-Reportage „Die Spur der Kinderschänder“ ans Herz gelegt, die sich bei YouTube finden lässt. Und auch die ARTE-Doku „Unfassbar – Der Fall Dutroux“. Eine Zusammenfassung der entsprechenden Fakten findet sich ebenfalls bei Wikipedia. Insgesamt knappe 7,5 Punkte. Sehr empfehlenswert.
D.S.
sah diesen Film im Harmonie, Frankfurt

28.09.2024, 03:04




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