Schweigen ist Silber, drüber reden ist Goldvon Herr_Kees | Permalink |
Die stumme Tong wird von einigen Klassenkameradinnen systematisch fertiggemacht, ihre Mutter ist nur die Putzhilfe der Schule und will keinen Aufruhr machen. Nach der letzten Aktion, bei der Tong mit Leim an die Wand geklebt wird, verschwinden plötzlich die fiesen Mädchen. Wir Zuschauer allerdings wissen: Der große Typ im schwarzen Regenmantel hat sie gekillt! Kann man einen Film overscripten? Sam Quahs Thriller tritt den Beweis an: Ab der Mitte des Films werden plötzlich Flashbacks gedroppt, die uns über diverse Familienverhältnisse aufklären und das bisherige Mitraten erstmal in Frage stellen. Etwas später bekommen wir dann weitere Flashbacks gezeigt, die eine ganz andere Geschichte erzählen und kurz vor Schluss taucht ein Beweisstück auf, das nochmal andere Informationen präsentiert, nur um einen draufzusetzen. Man könnte das natürlich als cleveres Spiel mit dem Zuschauer sehen, doch der Film selbst ist im Grunde so simpel aufgebaut und der Täter so einfach zu identifizieren, dass die systematische Falschinformation schnell als Stilmittel deutlich wird, den Film interessanter zu machen, als er ist. Am Schluss löst sich dann alles zudem in ein rührseliges Kitschszenario auf. Das ist extrem schade bei den Themen, die der Film hier vorgibt ernst zu nehmen und von denen das brutale Bullying noch das harmloseste ist. Lynchjustiz und Rache zu propagieren ist definitiv nicht die Antwort, dann doch lieber schweigen. | |
Herr_Kees sah diesen Film im EM, Stuttgart | 16.09.2024, 00:51 |
I Know What You Did Last Rainy Seasonvon D.S. | Permalink |
Eine Clique fieser Teens an einer Mädchenschule quält eine Mitschülerin auf boshafteste Weise und wird wenig später, eine nach der anderen, von einem vermummten Killer in einer schwarzen Regenjacke ermordet: Nach der ersten Viertelstunde könnte man meinen, hier in der chinesischen Variante eines typischen Teen-Slashers gelandet zu sein. Entgegen diesem ersten Anschein entwickelt sich die Handlung von A PLACE CALLED SILENCE – übrigens das Remake eines gleichnamigen, wenn auch etwas kürzeren Films desselben Regisseurs von 2022 – allerdings zu einer erstaunlich komplexen Geschichte, in deren Verlauf es mehrfach zu Enthüllungen kommt, die dem Geschehen eine ganz andere Richtung verleihen. Und einige Figuren plötzlich in einem ganz anderen Licht dastehen lassen. Am Ende sind es vielleicht sogar ein, zwei Wendungen zu viel: Die Story wäre stimmiger gewesen, wenn man es an einem bestimmten Punkt einfach dabei hätte bewenden lassen, statt nochmal und nochmal einen draufzusetzen. Aber das gibt nur Abzüge in der B-Note, denn so bleibt der Film immerhin bis ganz zuletzt spannend und überraschend. A PLACE CALLED SILENCE ist absolut nicht frei von derbem Kitsch. Stellenweise wird in Sachen Leid, Liebe und sonstiger großer Emotion wirklich viel zu dick aufgetragen – die letzte Einstellung vor dem Beginn des Abspanns etwa wirkt in ihrer pastelligen Paradies-Optik derart unfreiwillig albern, dass man als (westlicher) Zuschauer förmlich zum Lachen gezwungen wird. Normalerweise reagiere ich auf so etwas ja allergisch, in diesem Fall kann ich aber kaum anders, als darüber hinwegzusehen. Denn gleichzeitig fühlen sich größte Teile der Handlung derart schmerzhaft an, dass sie einem wirklich nahegehen und manchmal glatt Tränen provozieren können. Zumindest, wenn man selbst oder ein Mensch, der einem wichtig ist, einmal unter Mobbing gelitten hat. Denn Mobbing ist eins der zentralen Themen hier. In größerer Hinsicht, als es anfangs scheint. Die seit Geburt stumme Tong ist ganz alleine dem Hass und den niederträchtigen Aktionen einer Gruppe von Mädchen ausgeliefert, die qua Status tun und lassen können, was sie wollen. Und sie tun mehr, Schlimmeres, als man es aus sonstigen Filmen gewohnt ist: Die Brutalität ihres Vorgehens erreicht unglaubliche Level äußerst kreativer Bösartigkeit. Zwar werden sie gleich zu Beginn des Films ultimativ zur Rechenschaft gezogen, doch für das Publikum geht Tongs Leiden jetzt erst richtig los. Nicht nur, dass sie plötzlich verschwindet und ihre Mutter verzweifelt, fortlaufend ergebnislos, nach ihr sucht: Je weiter sich die Handlung entfaltet, desto mehr erfahren wir auch über die Details ihres Martyriums, das schon wesentlich früher angefangen hat und wesentlich tiefer geht, als man zunächst gedacht hat. „We are all Sinners“, sagt der bald als Entführer verdächtigte Hilfsarbeiter Dai Guodong an einer Stelle – der von einem großartig aufgelegten Francis Ng verkörpert wird, den man schon viel zu lange nicht mehr auf deutschen Leinwänden erleben durfte. Wie sich zeigen soll, steckt in diesem Satz sehr viel Wahrheit. Bezogen auf die Handlung dieses Films, aber ebenso auf das Verhalten all jener Menschen, die wegschauen, nicht einschreiten, vielleicht sogar aktive Beihilfe leisten, wenn ein Unschuldiger – im schlimmsten Fall ein hilfloses Kind – von anderen gequält oder misshandelt wird. Ob man für solche Sünden wird bezahlen müssen, ist eine andere Frage. Und ob Selbstjustiz die richtige Antwort ist, lässt A PLACE CALLED SILENCE erstaunlich deutlich offen. Wenn man über den Kitsch und die stellenweise leicht verkrampft wirkende Kompliziertheit der Narrationsstruktur hinwegsehen kann, wird man mit einem Thriller-Drama belohnt, das tatsächlich auch dorthin geht, wo es wirklich weh tut. Ungewöhnlich für ein offensichtlich recht hoch budgetiertes Projekt aus China, das nebenbei mit leuchtenden Farben, eleganter Kameraarbeit und ein paar wenigen wirklich eindrucksvollen visuellen Ideen glänzt. Eine häßliche CGI-Riesentaube gibt es allerdings auch zu ertragen. Trotzdem ehrlich überraschte 7,5 Punkte: Kraftvoll, bewegend, spannend. Und schön anzusehen. | |
D.S. sah diesen Film im Harmonie, Frankfurt | 23.09.2024, 02:26 |
Kumquatkillingsvon Leimbacher-Mario | Permalink |
„A Place Called Silence“ ist einer der diesjährigen Chinablockbuster und gleichzeitig auch noch dortiger Skandalfilm in mehrerlei Beziehung - von den Themen wie Mobbing oder Gewaltspiralen (auch der Obrigkeiten!), die der chinesischen Zensur übel aufgestoßen sind, bis zu einem kompletten Reshoot durch Personen Non Grata. Marketing und Hype hat dieser Thriller definitiv genug, wenn auch nicht immer positiv. Dazu vermarktet der Trailer das Ganze dann auch noch recht kurzweilig, düster und slasher'ig, sodass ich definitiv Bock hatte. Herausgekommen ist ein eher aufgeblasener und überfrachteter, keinesfalls schlechter Moralkrimi der chinesigeren Sorte - über mehrere Morde und Mobbinguntaten an einer grauen, korrupten Schule… Ich weiß, wen du letzten Sommer gemobbt hast Seine Ambitionen und vielfältigen Themen kann man „A Place Called Silence“ nicht absprechen. Von Mobbing über häusliche Gewalt und Machtmissbräuche sämtlicher Art bis zu Verlust, Umgang mit Wahrheit und Wut, Zivilcourage. All das packt Regisseur Sam Quah in den Mixer, drückt einmal auf „sehr hochwertig und durchaus teils spannend“ - fertig ist ein Krimikomplott mit fast epischen Ausmaßen. Gute Darsteller, dichte Atmosphäre, sehr regnerisch, manchmal etwas sprunghaft und sehr viel gewollt. Durchaus schreckliche Szenen, vor allem in Sachen Mobbing und Drangsalierung - aber der „Chinaüberschocker“ ist’s jetzt definitiv auch nicht. Die Story samt Wendungen ist clever, wird aber teils auch zu kompliziert ausgedehnt. Und mit Kitsch gerade am Ende muss man auch umgehen können (das ist bei mir aber der Fall und selten wirklicher Kritikpunkt). Wer also auf komplexe Thriller mit etlichen gesellschaftskritischen und moralischen Brennpunkten steht, der sollte diesen Chinahit nicht links liegen lassen. Dennoch hätte ich die „Originalversion“ auch mal gerne gesehen. Fazit: Ausgewalztes Mobbing-Rache-Thriller-Spinnennetz aus Überraschungen, Klischees und Grausamkeiten. Verzwickt und nicht ohne. | |
Leimbacher-Mario sah diesen Film im Residenz, Köln | 24.09.2024, 01:09 |
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