Climax

Dancing with Tears in my Eyes

von Dr_Schaedel
So, da haben wir es, das neuste Brett von Gaspar Noé. Wie erwartet, visuell und akustisch eine Herausforderung, das kündigt sich schon mit den fast schon zum Markenzeichen gewordenen Amok laufenden Credits an.

Worum geht’s? Eine französische Choreografin stellt sich eine illustre Truppe junger Tänzerinnen und Tänzer zusammen, mit denen sie auf Tournee durch die USA gehen will. Nach 3 Tagen Proben in einer abgedunkelten Schulaula sitzt die Choreografie (atemberaubend ohne einen einzigen Schnitt in einer viertelstündigen Einstellung gedreht) perfekt, und man will sich für die Strapazen mit einer kleinen Feier belohnen. Man trinkt Sangria, tanzt zu heißen Rhythmen, redet über Sex und Gott, hie und da kriselt es auch ein bisschen, das Übliche eben.
Doch irgendwann stellt die junge Selva fest: Hier stimmt etwas nicht. Der "normale" Partyrausch kippt plötzlich, und etwas ganz, ganz Unschönes beginnt sich abzuzeichnen ...

Eigentlich nicht viel Story, die da praktisch in Echtzeit abgewickelt wird, und trotzdem schafft es Noé, aus einer missglückten Partynacht einen schieren Albtraum aus Beats, Rausch, Aggression und Wahnsinn zu machen. Die entfesselte Kamera und die geisterbahnartige Beleuchtung in dem kargen Setting sind dabei seine verlässlichen Komplizen.

Was ihn hierbei beeinflusst hat, verrät der Meister buchstäblich am Rande: Zu Beginn des Films werden alle Beteiligten - eine ethnisch und gendermäßig sehr bunt zusammengewürfelte Runde 20-25jähriger - in einem Videointerview nach ihrer Motivation befragt. Wer den Blick kurz zur Seite schweifen lässt, wird sehen, dass der Bildschirm umrahmt ist von DVD- und Buchrücken. Es tauchen bekannte Genre-Filmtitel auf wie SUSPIRIA, POSSESSION, ZOMBIE, aber auch Fritz Zorns Roman MARS, der hier zwar etwas weit hergeholt scheint, seinerzeit aber auch ein eindrucksvolles Dokument einer verkackten Adoleszenz darstellte.
Und für mich persönlich ließen auch Edgar Allan Poes THE FALL OF THE HOUSE OF USHER und THE MASK OF THE RED DEATH von ferne grüßen, vielleicht auch irgendwo im Stapel zu sehen.

Und wie in Letzterem sind die jungen Tänzer, die am Anfang noch selbstbewusst von ihren Träumen und Plänen erzählen, am Schluss nur noch mechanisch agierende Opfer der übermächtigen Droge.
Erlösung? Naja. Nachdem der Zuschauer 90 Minuten lang zusammen mit den Akteuren zu Beats von Daft Punk, Aphex Twin & Co. weichgekocht wurde, entlässt uns Noé zu sanften, analogen Klängen (auch das kann er) und statischen Bildern (bis hin zum minutenlangen Standbild), indem er buchstäblich die Tür öffnet, hinaus aus diesem selbstzerstörerischen Mikrokosmos in die unschuldig weiße Winterlandschaft. Danke.

So lange wollten übrigens einige Zuschauer in München nicht warten. Sie zogen die Ausgangstür des Kinos vor. Ich nicht. Und ich wurde, wie alle anderen Tapferen, denn auch noch mit der fast bitter-komischen Auflösung der aufgeworfenen Frage belohnt.

Fazit: Wer sich eine visuelle und akustische Tour de Force geben will, die in die Abgründe der menschlichen Seele blickt und eine gute Portion Zynismus ("Dieser Film ist stolz darauf, französisch zu sein") mitbringt, ist mit CLIMAX gut beraten. Body-Horror mal anders, vergleichsweise unblutig, teilweise sogar ästhetisch fesselnd anzuschauen, aber dennoch verstörend. Vielleicht nicht Noés bedeutendster Film, aber auf jeden Fall wieder ein cineastisches Erlebnis.
Dr_Schaedel
sah diesen Film im Cinemaxx, München

15.09.2018, 11:00



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