No Looking Back

Ein Familienfilm der ganz, ganz anderen Art

von D.S.
Frauenpower auf Russisch: Der neue Film von Kirill Sokolov setzt voll und ganz auf starke weibliche Figuren – die allerdings auch sämtlich stark neben der Spur unterwegs sind.

Im Zentrum steht dabei einerseits Olya (gespielt von Viktoriya Korotkova, der Ehefrau von Sokolov), eine Mittdreißigerin mit Hang zu gewalttätigen Ausbrüchen, die einen dadurch bedingten vierjährigen Gefängnisaufenthalt soeben beendet hat. Andererseits ist da der heimliche Star des Films, ihre 10-jährige Tochter Masha (Sonya Krugova). Die kann süß gucken, vor allem aber auch ultra-wüst fluchen, skrupellos lügen und bösen Leuten aus Rache auf den Boden kacken. Hat sie (fast) alles von ihrer Mutter gelernt – und ihrer Großmutter, der Dritten im fiese-Frauen-Familienbunde: Vera (Anna Mikhalkova), ein echter Drache, der maximalen Wert auf Zucht und Ordnung legt, Olya ob ihres Lebenswandels verabscheut und offensichtlich, Überraschung, an einer stark ausgeprägten Affektstörung leidet.

Diese prototypische Vettel hat sich um Masha gekümmert, während Olya im Gefängnis war. Nun will ihre Tochter ihre Tochter zurück zu sich holen und mit ihr in die große Stadt ziehen, wo ihr Knast-Brieffreund auf sie wartet, um den beiden ein gar paradiesisches Leben zu bereiten. Damit ist Oma allerdings überhaupt nicht einverstanden – und reagiert härter als herzlich. Ja, ein Messer spielt eine Rolle.

Fortan sind Mutter und Tochter auf der Flucht: vor der Großmutter und Olyas Exfreund, einem einflussreichen Polizeibeamten, der seine brutale Ex (warum auch immer) nicht an einen anderen verlieren will. Dabei ist der internationale Titel des Films auch das Motto der beiden – zurückgeblickt wird hier nicht; egal was kommt, es kann nur besser werden. Was im Endeffekt eigentlich nur „Augen zu und durch“ bedeutet. Jede Menge Chaos und Blutvergießen inklusive.

Apropos: Mit seinem Feature-Debüt WHY DON‘T YOU JUST DIE! hat Sokolov die Messlatte in Sachen harter schwarzer Komödie sehr hoch gelegt. Gerissen wird diese hier zwar nicht unbedingt: Die Körperflüssigkeiten spritzen (zumindest zunächst) weniger exzessiv, die Gesamtsituation wirkt weniger vollgrotesk überzeichnet, die Geschichte enthält deutlich größere Tragik-Anteile. Nüchtern betrachtet ist das allerdings nicht unbedingt von Nachteil und NO LOOKING BACK das bessere, reifere Werk. Denn durch die größere Geradlinigkeit der Erzählung und das Herunterfahren ihres Tempos erhält der Film die Gelegenheit, seine zwischen verzweifelter Liebe und erschlagender Wut pendelnde Stimmung sowie vor allem seine wirklich farbenfrohen kaputten Charaktere auszuspielen.

Abgesehen davon ist eine klare Weiterentwicklung in filmischer Hinsicht festzustellen. Insbesondere der erneut von Sokolov selbst verantwortete Schnitt beeindruckt, indem er oft unerwartete Zusammenhänge – oder zumindest sehr komische Momente – schafft. Ohnehin ist die Narration vielleicht noch stärker als bereits im Vorgänger von einer grundlegenden Unvorhersehbarkeit geprägt. Sei es der Wechsel von Erzählperspektiven, die bewusst verzögerte Enthüllung wichtiger Storyhintergründe oder das mitunter vollkommen irrationale Figurenverhalten: Hier ist in keiner Hinsicht zu erahnen, wie sich die Handlung entwickeln wird, was für das genaue Gegenteil von Langeweile sorgt und den Betrachter fast automatisch in den Bann zieht. Auch die oft sehr bewegte Kamera lässt nichts zu wünschen übrig – es gelingt ihr sogar, eine stille Waldlichtung zu einem Raum zu verdichten, der so bedrohlich belagert wirkt wie im Vorgänger ein enges Apartment.

Selbst, wenn ein wenig Straffung zwischendurch nicht geschadet hätte – speziell, da ein nur mäßig interessanter Nebenhandlungsstrang um eine andere Familie ohnehin weitgehend im Nichts verläuft: NO LOOKING BACK ist ein Stück unheimlich erfrischender Unterhaltung eines Regisseurs, dem noch Großes zuzutrauen ist. Die größten Stil-Hits von Tarantino, Leone, Scorsese und Park Chan-wook, gekreuzt mit purer, spürbarer Leidenschaft für das Erzählkino. Und abgerundet durch ein extrem cooles Kind, das sich am Ende als die erwachsenste von allen erweist.
D.S.

22.03.2022, 14:43



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