crazy

Maldoror

Ein Blick in die Hölle – aus der Hölle

von D.S.
Fabrice du Welz bleibt dem Thrillergenre treu, nach der fiktiven Fabel INEXORABLE beschreitet er mit MALDOROR nun jedoch wesentlich realistischere Pfade. Leider realistischere, möchte man sagen – denn die Handlung seines Films ist mehr als nur angelehnt an die wahre, finstere Geschichte der Taten des belgischen Kinderschänders, Entführers und Mörders Marc Dutroux, die Mitte der 1990er ganz Europa erschütterten. Auch, wenn der und alle sonstigen Beteiligten hier andere Namen tragen: Du Welz bleibt den bis heute bekannten Fakten rund um den Fall weitgehend äußerst treu – bis zum Finale, das frei erfunden ist. Dazu später noch etwas mehr.

Was den Film dabei neben seinem makabren Sujet so interessant macht, ist die gewählte Erzählperspektive. Denn einer der wohl schockierendsten Aspekte der Dutroux-Gräuelsaga ist das Versagen der Ermittlungsbehörden, die inmitten von politischen, Verwaltungs- und Kompetenzstreitigkeiten wertvolle Hinweise zu den Taten unter den Tisch fallen ließen, sich gegenseitig in ihrer Arbeit behinderten und Indizien ignorierten, die es ihnen erlaubt hätten, einige Opfer noch lebend zu retten. Und weitere zu vermeiden. MALDOROR macht einen (fiktiven) Polizisten, den jungen Gendarmerie-Angehörigen Paul Chartier (Anthony Bajon, der 2020 die Titelrolle in TEDDY übernahm), zur Hauptfigur, zum Dreh- und Angelpunkt seiner Erzählung. Und gewährt uns dadurch einen Blick ins Innenleben des Chaos‘, welches es dem Morden und Leiden erlaubt hat, so viel länger anzudauern, als nötig gewesen wäre. Was wir dabei geboten bekommen, ist teilweise wirklich schockierend. Selbst dann, wenn man viele Details zum realen Fall bereits vor der Filmsichtung kannte.

Allerdings fügt du Walz der Handlung durch die Figur des Paul zudem eine weitere Ebene hinzu, die den Film eindeutig von der Anmutung einer Dokumentation entfernt – und dafür sorgen soll, dass beim Publikum eine stärkere Bindung an das Geschehen auf der Leinwand erfolgt. Dieses dreht sich nämlich nicht nur um die Dutroux-Ermittlungen an sich, sondern auch um Pauls eigene Geschichte und darum, wie sie von jenen beeinflusst wird. Wie er sich immer stärker in den Fall hineinsteigert, bald förmlich besessen von ihm ist. Und schließlich ganz persönliche Konsequenzen zieht.

Um diese Rolle umfassend ausfüllen zu können, benötigt Pauls Figur natürlich Hintergründe, Reibungspunkte und etwas zu verlieren. Zu den wenigen Dingen, die man MALDOROR vorwerfen kann, gehört die Tatsache, dass hier etwas ausufernd wild und vielleicht auch nicht unbedingt realistisch vorgegangen wurde. Was sowohl seine „reißerische“ Vergangenheit als Sohn einer Prostituierten (Béatrice Dalle) betrifft als auch seine episch geschilderten, durch die Hochzeit mit der jungen Gina (Alba Gaïa Bellugi, eine Hauptdarstellerin in INEXORABLE) finalisierten Verbandlungen mit einer sizilianischen Großfamilie. Darüber lässt sich jedoch hinwegsehen; entscheidender ist, dass seine persönliche, irgendwann außerordentlich ungesund werdende Obsession mit dem Fall auch den Zuschauer auf einer weiteren Ebene mitreißt.

Jedem, der sich auch nur entfernt für die Hintergründe und Folgen des Falls Dutroux interessiert, sei MALDOROR deshalb unbedingt empfohlen – wie auch jedem, der einfach nur einen spannenden Krimi mit deutlich geäußerter Kritik an der Arbeit der Behörden sehen möchte. In seinem Finale entfernt sich der Film übrigens recht deutlich vom realen Geschehen, allerdings auf eine Weise – vielleicht die einzig denkbare –, die es ihm ermöglicht, klare Position zu den weitverbreiteten Gerüchten und Verschwörungstheorien zu beziehen, die sich um mögliche Hintermänner Dutroux‘ drehen – um einen weltweiten Pädophilenring und die Verstrickung hochrangiger Politiker und Geschäftsleute in diesen. Das einzige, was der Film (fast) gar nicht thematisiert, ist die Tatsache, dass in der Zeit zwischen Dutroux’ Verhaftung und dem Prozessbeginn 27 Zeugen unter teils sehr mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sind. Was wirklich spooky ist. Wer sich dafür interessiert, dem sei die ZDF-Reportage „Die Spur der Kinderschänder“ ans Herz gelegt, die sich bei YouTube finden lässt. Und auch die ARTE-Doku „Unfassbar – Der Fall Dutroux“. Eine Zusammenfassung der entsprechenden Fakten findet sich ebenfalls bei Wikipedia. Insgesamt knappe 7,5 Punkte. Sehr empfehlenswert.
D.S.
sah diesen Film im Harmonie, Frankfurt

28.09.2024, 03:04



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